Wenn eine Gruppe von Menschen ein Thema diskutiert, gilt es am Ende häufig eine Entscheidung zu treffen. Diese Situationen begegnen uns nicht nur regelmäßig im privaten Alltag (Was essen wir heute zu Abend? Wohin fahren wir in den Urlaub?), sondern vor allem auch im Arbeitsumfeld. In jedem Unternehmen und in jedem Team gibt es täglich mehr oder weniger signifikante Entscheidungen zu treffen, die den Verlauf und Erfolg eines Projekts maßgeblich beeinflussen können.

In dieser Blogreihe gehen wir der Frage nach, warum es besonders in agilen Development Teams so wichtig ist, sich mit der Art und Weise der Entscheidungsfindung auseinanderzusetzen.

Da sich im Bereich der Softwareentwicklung Scrum als führende Projekt-Management-Methode durchgesetzt hat, spielt hier das Element der Eigenverantwortung eine große Rolle. Agile Teams handeln selbstorganisiert und müssen in hoher Frequenz eigenverantwortlich Entscheidungen treffen. Um den Prozess der Entscheidungsfindung zu vereinfachen und möglichen Komplikationen vorzubeugen, ist es sinnvoll, die Vor- und Nachteile der verschiedenen Methoden gegenüber zu stellen und abzuwägen, welche Methode am zielführendsten für das jeweilige Thema ist.

Wir haben unsere Erfahrungen zusammengetragen und stellen in dieser Reihe die gängigsten Methoden sowie deren Anwendbarkeit in agilen Teams vor.

Im ersten Teil unserer Reihe zum Thema „Entscheidungsfindung in der agilen Softwareentwicklung” haben wir bereits die Vor und Nachteile sowie die Umsetzbarkeit des Einzelentscheids und des Mehrheitsentscheids in agilen Development Teams aufgezeigt. Da sich beide Methoden als nur mäßig zielführend in diesem Bereich heraus stellten, wollen wir in Teil Zwei dem Konsens- und dem Konsentenscheid auf den Grund gehen.

Der Konsensentscheid

Beim Konsensprinzip werden Entscheidungen erst getroffen, wenn alle Beteiligten einer Lösung zustimmen, es muss also aktiv auf einen Konsens hingearbeitet werden. Alle Gruppenmitglieder müssen demnach (ggf. am Ende der Diskussion) einstimmig mit der Entscheidung einverstanden sein.

Konsensentscheidungen kennen wir z.B. aus Strafverfahren in den USA, wo Entscheidungen der Jury einstimmig getroffen werden müssen.

Wie funktioniert ein Konsensentscheid?

Es gibt keinen definierten Prozess, wie man einen Konsens erreicht - häufig wird diskutiert, bis alle Beteiligten zustimmen.

Ein mögliches (moderiertes) Vorgehen könnte folgendermaßen ablaufen:

  1. Definiere, bis wann ein Konsens erarbeitet sein muss und was passiert, wenn kein Konsens gefunden wurde: bleibt alles beim Alten?
  2. Visualisiere zunächst die Problemstellung.
  3. Sammle mögliche Optionen (z.B. per Brainstorming) und bilde Cluster von ähnlichen Ideen.
  4. Durch eine unverbindliche Abstimmung werden die Standpunkte und oft auch Emotionen der Teammitglieder sichtbar.
  5. Reihum darf jeder für eine Option plädieren.
  6. Eine weitere unverbindliche Abstimmung zeigt, wie weit der Konsens noch entfernt ist.
  7. Wenn sich eine mögliche Lösung abzeichnet, kann man mit den noch fehlenden Befürwortenden verhandeln, unter welchen Bedingungen sie der Option zustimmen.
  8. Wiederhole ab Schritt 5, bis alle einer Option zustimmen.
VorteileNachteile
Die Methode fördert das Gemeinschaftsgefühl und das „Backing” der Entscheidung.Der Prozess der Entscheidungsfindung kann sehr zeitaufwändig sein, da die Entscheidung einstimmig getroffen werden muss.
Das Ergebnis stellt idealerweise alle Teammitglieder zufrieden.Die Methode ist für große Gruppen daher nicht gut geeignet.
Die Umsetzung der Entscheidung wird meist in der Entscheidungsfindung berücksichtigt.Der Fokus liegt (eher) auf dem Verhandeln einer Lösung und nicht auf dem Finden der besten Lösung.
Die Macht wir absolut gleich in der Gruppe verteilt.Häufig kommt ein fauler Kompromiss heraus, da schlimmstenfalls nur zugestimmt wird, um endlich eine Entscheidung zu erreichen.

Der Konsententscheid

Anders als bei der Konsensentscheidung, bei der Entscheidungen nur bei 100%iger Zustimmung getroffen werden, werden bei der Konsententscheidung Entscheidungen nur ohne Gegenstimmen getroffen - „Ich bin dafür” (Konsens) vs. „Ich bin nicht dagegen” (Konsent).

In der Soziokratie (einer speziellen Form der Selbstorganisation) sind Konsententscheidungen ein integraler Weg der Mitgestaltung. Im Praxisleitfaden Soziokratie 3.0 wird der Konsententscheid wie folgt beschrieben:

„Ein (moderierter) Gruppenprozess zur Entscheidungsfindung: sammle Einwände, und integriere das dahinterstehende Wissen, um Vorschläge und bestehende Vereinbarungen weiterzuentwickeln.”

Dabei sollen die Lösungen „gut und sicher genug bis zum Termin der nächsten Überprüfung” sein.

Wie funktioniert ein Konsententscheid?

  1. Fokussieren: Was ist der Inhalt des Tagesordnungspunktes, worüber soll entschieden werden? Was soll mit der Bearbeitung erreicht werden?
  2. Bildformende Phase: Präsentation des Themas/des Vorschlages und Sammeln aller Informationen, die für die Meinungsformung notwendig sind.
  3. Meinungsformende Phase: Alle Teilnehmer:innen haben die Gelegenheit, ihre Meinung zu dem Thema zu äußern (hintereinander). Es werden mögliche Lösungsvorschläge oder Kriterien für eine Lösung gesammelt. Danach gibt es meistens noch eine zweite Meinungsrunde.
  4. Entscheidungsfindende Phase: Finaler Schritt ist die Konsentrunde zur Beschlussfassung bzw. Suche nach einem Beschluss ohne schwerwiegenden Einwand. Die Moderation formuliert dazu einen Vorschlag auf Basis der Kriterien aus der meinungsformenden Runde, liest ihn vor und stellt ihn zur Abstimmung. Jede:r Teilnehmer:in gibt ihren/seinen Konsent oder nennt einen begründeten, schwerwiegenden Einwand. Gemeinsam wird das Argument hinter dem Einwand in einen neuen Vorschlag eingearbeitet und wieder zur Abstimmung gegeben, bis der Konsent erreicht ist.

Bei der Entscheidungsfindung können verschiedene Vorgehensweisen helfen (sie können natürlich auch bei anderen Vorgehensweisen, z.B. bei der Konsensfindung eingesetzt werden):

Gesten per Hand:

  • Daumen nach oben: Kein Einwand, keine Bedenken
  • Daumen horizontal: Ich stimme nicht zu, kann mich aber mit der Entscheidung abfinden und sie dann unterstützen
  • Daumen nach unten: Ich stimme nicht zu und habe starke Bedenken

“Fist to Five”: Bei dieser Methode kann Zustimmung bzw. Ablehnung granular abgefragt werden (diese wird z.B. auch in SAFe zur Abfrage von Zustimmung/Ablehnung bzw. der Zuversicht verwendet). Dabei gibt die Zahl der gezeigten Finger Aufschluss über den Grad der Zustimmung zu einem Thema:

VorteileNachteile
Schnellere Entscheidungsfindung als beim Konsens (→ „gut genug”)Entscheidungsfindungen brauchen länger als bei manchen anderen Methoden (z.B. Einzelentscheidung).
Einwände werden zur Lösungsverbesserung genutzt.Der Weg bis zur Entscheidung macht häufig eine erfahrene Moderation nötig.
Minderheiten werden gehört (im Gegensatz zur Mehrheitsentscheidung) und können ihren Blickwinkel in die Diskussion einbringen.Die Methode ist auf Grund des umfangreichen Abstimmungsprozesses nicht ideal für große Runden.
Die Entscheidungsfindung ist in der Regel sehr transparent. 

Umsetzung in der agilen Praxis

Beide vorgestellten Entscheidungsmethoden eignen sich sehr gut im Kontext der Arbeit mit Scrum. Vor allem die Notwendigkeit, dass alle Teammitglieder am Entscheidungs- und bestenfalls Lösungsprozess mitwirken, lässt sich exzellent mit den Scrum-Werten - in diesem Fall dem Wert „Engagement” - vereinen.

Ein Praxisbeispiel für den Einsatz der Konsens-Methode wäre das Estimation-Meeting, in dem das Scrum-Team zusammen kommt, um neue und/oder bestehende User Stories zu besprechen und den Aufwand der jeweiligen Story zu schätzen. Hier ist die Diskussion, die zur Findung eines Konsens führt, wertvoll und gewünscht, da Unterschiede in Hintergrundwissen, Verständnis und Umfang von Backlog Items aufgedeckt und mit den anderen Teammitgliedern geteilt werden. Dies kann zu einem besseren Gesamtverständnis und auch einer besseren Lösung führen.

Die Konsent-Methode findet z.B. Anwendung bei der Auswahl der passenden Technologien, da dies meistens keine Entscheidung ist, die schwarz/weiß getroffen werden kann. Entsprechend hilfreich ist es dann, die vorhandenen Möglichkeiten zu diskutieren und die zum aktuellen Zeitpunkt und Wissensstand beste Wahl zu treffen.

Der Nachteil, dass beide Methoden sich weniger für größere Gruppen eignen, kommt durch die kleinen, dynamischen Teams in Scrum in der Regel nicht zum Tragen. Wie komplex und zeitaufwändig der Entscheidungsprozess ist, hängt maßgeblich vom Zusammenspiel im Team und der Moderationsfähigkeit des Scrum Masters ab. In jedem Fall sollte die gemeinsam getroffene Entscheidung nicht unantastbar sein und im Sinne der drei Säulen der Scrum-Theorie (Transparency, Inspection, Adaption) kontinuierlich überprüft und bei Bedarf neu getroffen werden.


Im dritten und letzten Teil unserer Reihe zum Thema „Entscheidungsfindung in der agilen Softwareentwicklung” stellen wir noch zwei weitere interessante Methoden vor. Dann erfahren Sie, bei welcher Methode die fachliche Eignung besonders entscheidend ist und was sich hinter dem Begriff „Systemisches Konsensieren” verbirgt.

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Sie wollen mehr über das Thema wissen?
Hier geht es zum ersten Teil der Reihe:
Entscheidungsfindung in der agilen Softwareentwicklung - Ein Überblick - Teil 1