Die Tatsachenentscheidung

In den ersten drei Teilen unserer Reihe "Entscheidungsfindung in der agilen Softwareentwicklung" haben wir bereits sechs verschiedene Methoden der Entscheidungsfindung im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit in agilen Teams betrachtet. Da sich im Bereich der Softwareentwicklung Scrum als führende Projekt-Management-Methode durchgesetzt hat, spielt hier das Element der Eigenverantwortung eine große Rolle. Agile Teams handeln selbstorganisiert und müssen in hoher Frequenz eigenverantwortlich Entscheidungen treffen. Um den Prozess der Entscheidungsfindung zu vereinfachen und möglichen Komplikationen vorzubeugen, ist es sinnvoll, die Vor- und Nachteile der verschiedenen Methoden gegenüber zu stellen und abzuwägen, welche Methode am zielführendsten für das jeweilige Thema ist.

Im vierten und letzten Teil der Reihe wollen wir das Thema einmal von einer ganz anderen Seite beleuchten. Unser Scrum Master Lukas ist in seiner Freizeit leidenschaftlicher Fußball-Schiedsrichter und möchte daher der Frage auf den Grund gehen, inwiefern die Entscheidungsfindung im Sport Überschneidungen mit der agilen Welt und der Arbeit von Scrum Master:innen aufweist. Welche Parallelen bestehen zwischen einer Fußballmannschaft und einem Scrum-Team und was widerspricht vielleicht sogar dem agilen Gedanken? Den Fokus legt er hierbei auf die Tatsachenentscheidung, welche zum Standard-Repertoire eines/einer jeden Schiedrichter:in gehört.

Was zeichnet eine Tatsachenentscheidung aus?

Die Tatsachenentscheidung gründet sich auf die subjektive Wahrnehmung eines Sachverhalts durch eine:n Schiedsrichter:in in einem Sportspiel. Um das Regelwerk verschiedener Sportarten (z.B. Fußball, Handball, Volleyball) in der Praxis anwenden zu können, ist es zwingend erforderlich, dass die Entscheidung der spielleitenden Person sofort wirksam wird, ohne dass eine teilnehmende Person des Wettkampfs bzw. ein Team dagegen Einspruch erheben kann oder eine Entscheidung nachträglich in irgendeiner Form widerrufen wird. Ausschließlich ein regeltechnischer Fehler der spielleitenden Person, das heißt, dass diese nach objektiven Kriterien nicht den Spielregeln gemäß gehandelt hat, ist anfechtbar. Ein nachgewiesener Regelfehler zieht dann meistens ein Wiederholungsspiel bzw. die Wiederholung des Wettkampfs nach sich, was aber in der Praxis nur sehr selten vorkommt.

Wie funktioniert die Tatsachenentscheidung?

Die Entscheidungen von Schiedsrichter:innen laufen immer nach folgendem Schema ab:

  1. Wahrnehmung einer Situation

Die Grundvoraussetzung für die Möglichkeit einer Entscheidung ist, dass der Sachverhalt überhaupt erst wahrgenommen wird. Es dürfen keine Thesen, Vermutungen oder Vorurteile als Entscheidungsgrundlage dienen. Wird zum Beispiel ein Fußballspieler im Rücken der spielleitenden Person gefoult, kann das Foul nicht geahndet werden. Die Wahrnehmung kann ausschließlich subjektiv durch die spielleitende Person oder ggf. die assistierenden Personen geschehen. Wichtig ist eine Rücksprache mit dem ganzen Schiedsrichter-Team (wenn vorhanden), da eine Situation aus mehreren Perspektiven sehr unterschiedlich wahrgenommen werden kann.

2. Beurteilung einer Situation und Feststellung einer Tatsache

Wird eine Situation wahrgenommen, folgt darauf die sofortige Beurteilung des Sachverhalts. Beurteilt werden ausschließlich die Teile des Sachverhalts, die wahrgenommen wurden. Die Beurteilung erfolgt auf Basis der Regeldefinition. Die Wahrnehmung wird im Moment der Beurteilung zu einer Tatsache (Definition laut Duden: “etwas, was geschehen oder vorhanden ist, gegebener Umstand”).

3. Entscheidung und Regelanwendung

Es folgt nun eine Entscheidung der spielleitenden Person auf Basis dieser Tatsache. Wird die Regeldefinition dabei korrekt angewendet, kann die Entscheidung niemals falsch sein, da sie subjektiv der Wahrnehmung entsprechend angewandt wird. Im Sinne einer schnellstmöglichen und praktikablen Lösung ist diese “Tatsachenentscheidung” die einzig sinnvolle Lösung. Wer möchte sich ausdenken, wie lange bspw. ein Fußballspiel dauern könnte, wenn jede beteiligte Person jede Tatsachenentscheidung anzweifeln und überprüfen lassen könnte.

4. Umsetzung der Regel

Hat die spielleitende Person eine Entscheidung getroffen, wird die Regel entsprechend des Regelwerks umgesetzt. Dies bedeutet dann entweder, weiterspielen zu lassen oder das Spiel zu unterbrechen - inklusive der Festlegung einer Spielfortsetzung (z.B. Freistoß), eines Ortes für die Spielfortsetzung und ggf. einer persönlichen Disziplinarstrafe (z.B. Gelbe / Rote Karte) für einen oder mehrere Teilnehmende.

Scrum Master:innen als Schiedsrichter:innen

Es lässt sich aus dem Vorangegangen bereits eine klare Gemeinsamkeit zwischen der Arbeit von Scrum Master:innen und der Arbeit von Schiedsrichter:innen ableiten: Beides basiert grundsätzlich auf einem regelnden Rahmenwerk. Während das Sport-Regelwerk sicherlich oft strikter reguliert als der Scrum Guide mit seinen sehr offen gehaltenen Regeln der Zusammenarbeit, dient das Regelwerk doch in beiden Kontexten einem zentralen Zweck: Der Schaffung von Leitlinien. Egal ob Verhalten, Kommunikation, Strafen oder Rollen: das Rahmenwerk bietet einen festen Horizont, der Sicherheit gibt und das Miteinander regelt.

"Vor allem in Meetings kann Scrum Master:innen auch die Rolle von Schiedsrichter:innen zukommen. Kommt es zu einem Konflikt zwischen Teammitgliedern, müssen Scrum Master:innen auch hier ohne Vorbereitungszeit reagieren und die entstandene Situation beurteilen."

Ebenso wie durch die spielleitende Person im Sport wird die wahrgenommene Tatsache beurteilt und entsprechend des Regelwerks (dem Scrum Guide) eine Entscheidung zum weiteren Vorgehen getroffen. Hier geht es dann weniger um den Ort der Spielfortsetzung als bspw. die Verteilung von Gesprächsrollen oder der Sanktion eines Verstoßes gegen die vom Team festgelegten Regeln.

Ein Unterschied zwischen den Rollen von Schiedsrichter:innen und Scrum Master:innen liegt jedoch in der Neutralität. Scrum Master:innen agieren in ihrer Rolle alles andere als neutral: Durch gezielte Hinweise und das Einwirken auf das Team wird versucht, dieses kontinuierlich dabei zu unterstützen, neue Verhaltensweisen einzuführen oder bestehende, positive Verhaltensweisen, beizubehalten. Dadurch kommt Scrum Master:innen also auch noch eine Trainer:innen-Rolle zu, wohingegen Schiedrichter:innen reine Beurteilende sind, ohne dabei Einfluss auf das Verhalten der Spieler:innen auszuüben.

Anders als auf dem Sportplatz oder der Sporthalle müssen Scrum Master:innen auch nicht zwingend direkt entscheiden. Es ist durchaus in Ordnung, eine Aufgabe oder ein Problem mit aus einem Gespräch bzw. einer Situation zu nehmen und sich eigene Gedanken zu machen oder mit einzelnen Teammitgliedern im Nachhinein eine Lösung zu erarbeiten. Anders als Schiedsrichter:innen sollten Scrum Master:innen auch nur in zwingend notwendigen Momenten die ‘harte’ Hand zeigen und bspw. Sanktionen verhängen. Ziel ist weiterhin die Selbstbefähigung aller beteiligten Teammitglieder.

Vor- und Nachteile

ProsCons
Entscheidungen können schnell getroffen werdenFehlentscheidungen fallen (trotz Unterstützung im Team) schlimmstenfalls auf Entscheider:innen zurück
In jeglichen Teamgrößen anwendbarDie Entscheidung erfolgt ausschließlich subjektiv
Entscheidungen orientieren sich am zugrundeliegenden Scrum-Guide

Viel Wege führen... zur Entscheidung

Wer sich mit den Möglichkeiten der Entscheidungsfindung eingehender beschäftigt sieht also, dass es eine Vielzahl an Wegen gibt, zu einer Entscheidung zu gelangen (von denen wir in unserer Reihe nur einen Bruchteil abgedeckt haben).

Es hilft also, sich vorab gewisse Fragen zu stellen, um die der Situation entsprechende Methode für sich zu finden.

  • Wie groß ist das Team, in dem die Entscheidung getroffen werden soll?
  • Wie komplex ist die Fragestellung?
  • Wie schnell wird die Entscheidung benötigt?
  • Welche Stakeholder sind involviert?
  • Welche Tragweite haben die Folgen einer Entscheidung?
  • Welches Vorwissen haben die Beteiligten an der Diskussion?

In der Regel kennt man als Scrum Master:in das Team bereits gut und kann daher diese Fragen sehr intuitiv für sich beantworten und somit schnell zu einer Lösung gelangen. Unser Überblick soll dabei helfen, die Vor- und Nachteile der verschiedenen Methoden übersichtlich aufzuzeigen und Sie ermuntern, auch eher unbekannte Modell in Betracht zu ziehen und auszuprobieren. Sie werden sehen, wie abwechslungsreich das Feld der Entscheidungsfindung sein kann, ihr Team wird es Ihnen danken. ;)

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