Konsultativer Einzelentscheid vs. Systemisches Konsensieren

Wenn eine Gruppe von Menschen ein Thema diskutiert, gilt es am Ende häufig eine Entscheidung zu treffen. Diese Situationen begegnen uns nicht nur regelmäßig im privaten Alltag (Was essen wir heute zu Abend? Wohin fahren wir in den Urlaub?), sondern vor allem auch im Arbeitsumfeld. In jedem Unternehmen und in jedem Team gibt es täglich mehr oder weniger signifikante Entscheidungen zu treffen, die den Verlauf und Erfolg eines Projekts maßgeblich beeinflussen können. In dieser Blogreihe gehen wir der Frage nach, warum es besonders in agilen Development Teams so wichtig ist, sich mit der Art und Weise der Entscheidungsfindung auseinanderzusetzen.

Da sich im Bereich der Softwareentwicklung Scrum als führende Projekt-Management-Methode durchgesetzt hat, spielt hier das Element der Eigenverantwortung eine große Rolle. Agile Teams handeln selbstorganisiert und müssen in hoher Frequenz eigenverantwortlich Entscheidungen treffen. Um den Prozess der Entscheidungsfindung zu vereinfachen und möglichen Komplikationen vorzubeugen, ist es sinnvoll, die Vor- und Nachteile der verschiedenen Methoden gegenüberzustellen und abzuwägen, welche Methode am zielführendsten für das jeweilige Thema ist.

Wir haben unsere Erfahrungen zusammengetragen und stellen in dieser Reihe die gängigsten Methoden sowie deren Anwendbarkeit in agilen Teams vor.


Im ersten Teil unserer Reihe zum Thema „Entscheidungsfindung in der agilen Softwareentwicklung” haben wir bereits die Vor- und Nachteile sowie die Umsetzbarkeit des Einzelentscheids und des Mehrheitsentscheids in agilen Development Teams aufgezeigt. Auf diesen Ergebnissen aufbauend stellten wir in Teil 2 der Reihe den Konsens- und den Konsententscheid gegenüber. All diese Methoden sind uns aus dem Alltag und dem Arbeitsumfeld wahrscheinlich relativ geläufig. Darüber hinaus gibt es allerdings noch weitere effiziente Wege zur Entscheidungsfindung, die besonders im fachlichen Kontext näher betrachtet werden sollten.


Der konsultative Einzelentscheid

Für einen konsultativen Einzelentscheid werden eine oder mehrere Personen als Entscheider:innen ausgewählt, die sich in einem Thema besonders gut auskennen oder einen guten Zugang zu wichtigen Konsultationspartner:innen haben. Wichtig: Es geht bei der Auswahl sowohl der Entscheider:innen als auch der Konsultationspartner:innen um die (fachliche) Eignung und Nähe zum Thema, hierarchische Ebenen spielen keine Rolle.

Die Konsultationspartner:innen sind als Berater beim Entscheidungsprozess durch Entscheider:innen hinzuzuziehen. Am Ende präsentiert der/die Entscheider:in (oder die Gruppe von Entscheider:innen) ihre Lösung.

Diese Entscheidung muss akzeptiert und unterstützt werden: Das ganze Unternehmen oder das ganze Team muss sich dabei voll hinter den oder die Entscheider:innen stellen.

Wie funktioniert ein konsultativer Einzelentscheid?

  1. Wahl der Entscheider:in - Entscheider:in sollte möglichst nahe am Problem sein, die Betroffenheit entsprechend groß. In den meisten Fällen wird es die Person (oder Gruppe von Personen) sein, die im „alten Modus” die Entscheidung an die nächste Ebene eskaliert hätte.
  2. Auswahl der Konsultationspartner:innen - Hier sollten neben den am besten geeigneten internen und externen Expert:innen vor allem Kolleg:innen ausgewählt werden, die von den Folgen der Entscheidung direkt betroffen sind.
  3. Konsultative Dialoge - Im Kern geht es hierbei um Wissens- und Erfahrungsaustausch. Was haben die jeweiligen Kolleg:innen in ähnlichen Situationen gemacht, oder welche Optionen würden sie empfehlen? Ziel ist das Lernen von- und miteinander.
  4. Auswahl der Lösung - Entscheider:in übernimmt nun als Einzelperson (bzw. als Gruppe) die volle Verantwortung und entscheidet im Sinne des Unternehmens, unter Berücksichtigung der besten Ideen und Ratschläge der konsultierenden Kolleg:innen.
  5. Feedback geben - Die Gruppe, für die entschieden wurde, gibt den Entscheider:innen Feedback. Falls es schiefgeht stehen trotzdem alle hinter der Entscheidung, vor dem Hintergrund, dass die Entscheider:innen ihr Bestes getan haben.
VorteileNachteile
Entscheider:innen haben i.d.R viel Hintergrundwissen.Großes Vertrauen in Entscheider:in ist Voraussetzung.
Verschiedene Meinungen werden gehört.Fehlentscheidungen fallen (trotz Unterstützung im Team) schlimmstenfalls auf Entscheider:innen zurück.
Entscheidungen haben mehr Unterstützung als Einzelentscheidungen. 
Entscheidungen können schneller getroffen werden als bei vielen anderen Methoden. 

Systemisches Konsensieren

Das Systemische Konsensieren zielt (ähnlich wie der Konsententscheid) darauf ab, die Lösung mit dem geringsten Widerstand in der Gruppe zu finden. Wie bei anderen Methoden ist die Zielsetzung, eine Entscheidung zu treffen, die besser ist als die sogenannte „Passivlösung” - also die Entscheidung (-smethode), die herangezogen würde, wenn keine Einigung erzielt werden kann.

Die Gruppe ermittelt dann aus den selbst entwickelten Lösungsvorschlägen jenen Vorschlag, der die geringste Ablehnung erfährt. Für die Entscheidungsfindung vergibt jede:r Teilnehmer:in „Widerstandspunkte” an jeden Vorschlag. Der Vorschlag mit der niedrigsten Gesamtpunktzahl gewinnt.

Wie funktioniert systemisches Konsensieren?

  1. Entwicklung einer Fragestellung - Eine Gruppe möchte eine Entscheidung treffen, die von allen Beteiligten getragen wird. Sie entwickelt eine übergeordnete Fragestellung, die nicht mit Ja oder Nein zu beantworten ist. Neben der Fragestellung sollte in dieser Phase auch definiert werden, was passiert, wenn keine Lösung gefunden werden kann („Passivlösung”). Beispiel: Welche Technologie/Programmiersprache wollen wir für einen neuen Service verwenden?
  2. Kreativphase: Sammeln von Lösungsvorschlägen - In der zweiten Phase werden Lösungsvorschläge gesammelt, wobei Kreativität und Vielfalt gewünscht sind. Alle Ideen und Wünsche dürfen vorgebracht werden und stehen gleichberechtigt nebeneinander. Die Lösungsvorschläge werden in dieser Phase nicht kommentiert oder diskutiert.
  3. Bewertungsphase - In der Bewertungsphase wird jeder Lösungsvorschlag von jedem Gruppenmitglied mit sogenannten Widerstandspunkten bewertet. Null Punkte bedeutet dabei „Kein Widerstand“ bzw. „diese Lösung kann ich mittragen“. Die höchste zu vergebende Punktezahl ist 10 und bedeutet „starker Widerstand“ bzw. „ich lehne diesen Vorschlag entschieden ab“. Die Bewertung wird auf einer Matrix notiert.
  4. Auswertung - Abschließend werden die von den Teilnehmer:innen vergebenen Punkte für jeden Lösungsvorschlag zusammengerechnet. Die Lösung mit der geringsten Punktzahl erfährt in der Gruppe den geringsten Widerstand und ist einem Konsens deshalb am nächsten.
VorteileNachteile
Die Beteiligten haben kreativen Spielraum im Prozess.Ohne Moderation schwierig durchzuführen.
Viele (möglicherweise eingangs sogar abwegig erscheinende) Lösungen werden in Erwägung gezogen.Ungewohntes/neues Format, d.h. Erfahrung in der Anwendung fehlt möglicher Weise.
Die Methode ist sehr zielgerichtet, da die Gefahr, sich in Diskussionen „zu verzetteln”, minimiert wird.Lösungsvorschläge müssen unmissverständlich formuliert werden.

Umsetzung in der agilen Praxis

Vor allem in sehr komplexen agilen Umgebungen mit herausfordernder technischer Infrastruktur kann es sinnvoll sein, zur Entscheidungsfindung den konsultativen Einzelentscheid heranzuziehen. Insbesondere in größeren agilen Teams können durch kleinere konsultative Dialoge ineffiziente, ausschweifende Diskussionen aller Mitglieder vermieden werden. Auch wenn am Ende eine kleinere Gruppe fachlich kompetenter Mitglieder mit dem späteren ‘Entscheider’ die Lösung diskutiert, sollte nicht vergessen werden, im Nachgang durch einen Informationsaustausch einen Lerneffekt für alle Mitglieder des Teams zu gewährleisten.

Das Systemische Konsensieren eignet sich ebenfalls sehr gut im agilen Kontext. Vor allem die Partizipation des gesamten Teams fördert die agilen Werte und stärkt das Gefühl, gemeinsam und gleichberechtigt eine Lösung entwickelt zu haben. Durch das festgelegte Schema werden ausschweifende Diskussionen begrenzt und kreative Lösungen werden ausdrücklich begrüßt. Allerdings steigt der Moderationsbedarf mit zunehmender Gruppengröße merklich. Ebenso kann es vorkommen, dass Mitglieder weniger interessiert sind, zu einem kreativen Prozess zur Entscheidungsfindung beizutragen.

Beide Methoden können in komplexen, uneindeutigen Situationen helfen, eine Entscheidung zu treffen. Diese sollte zum aktuellen Kenntnis- und Wissensstand eine Lösung bieten, die „gut genug” ist. Erfahrungsgemäß ist eine Entscheidung basierend auf einer der beiden Methoden zumeist besser, als keine Entscheidung zu treffen - außerdem ist die Option “nichts tun” häufig auch eine Wahlmöglichkeit (oder zumindest der „Fallback” falls keine Entscheidung getroffen wird).

💡
Wenn Sie mehr über Scrum und agiles Arbeiten erfahren wollen, schauen sie doch mal hier vorbei:
Scandio Report - Scrum Edition
Warum jedes agile Projekt über einen Proxy-PO nachdenken sollte